Von Zeit zu Zeit sehen sich Coaches damit konfrontiert, dass Klienten – unabhängig vom eigentlichen Coaching-Thema – bestimmte Auffälligkeiten zeigen. Schauen wir uns zur Einleitung zwei Beispiele an:
- Eine Studienabsolventin befindet sich im dritten Berufsjahr. Sie wird von ihrem Team geschätzt und steht auch privat mit beiden Beinen im Leben. Sie möchte durch ein Coaching ihre Leistung unter Druck und Stress besser «managen» können. Im Coaching gibt sie allerdings häufiger von sich, dass sie sich als Versagerin sieht und ihr nichts gelingen würde. Die Welt erscheint ihr grau und ihr Alltag empfindet sie als trostlos und öde.
- Ein 45-jähriger Mann mit ausgezeichnetem Lebenslauf möchte durch ein Coaching mehr Orientierung für seinen nächsten Karriereschritt finden. Er kann sich neben einer reduzierten Festanstellung eine Selbstständigkeit vorstellen. Im Gespräch äussert er allerdings vermehrt unter gleichgültigem Achselzucken, dass es am Ende des Tages nicht so eine grosse Rolle spielen würde, ob er noch auf der Welt ist oder nicht. Er sei ohnehin nur einer von vielen.
Es werden in solchen Fällen Themen berührt, die Aufmerksamkeit und Sensibilität eines Coaches erfordern. Denn sie können in Richtungen tendieren wie z. B. Depression (Fall 1), Sucht, Angst, Essstörung, Zwänge bis hin zu Sinnlosigkeit und Suizid (Fall 2).
Im Übergang zwischen Coaching und Therapie
In Situationen wie oben beschrieben, ist der Coach mit Klienten konfrontiert, deren mentale Gesundheit mehr als nur «verstimmt» ist; in diesem Fall leidet und kränkt nämlich die mentale Gesundheit betreffender Menschen. Dies äussert sich – ähnlich wie in den obigen Beispielen – in Denk- und Verhaltensweisen von Klienten, die …
- auffällig wirken und dich als Coach aufhorchen lassen;
- nicht der gesunden und gesellschaftlichen Norm entsprechen;
- das eigene Leben der Klienten einschränken oder sogar bedrohen.
Der Coach befindet sich unter solchen Umständen nicht mehr ausschliesslich im Coaching-Bereich, sondern berührt auch Bereiche der Psychopathologie* und Psychotherapie.
Entscheidend ist somit, bestimmte Äusserungen und Signale der Klienten überlegt zu deuten, um einen vielleicht «nur dahergesagten Satz» von einem stillen, aber klaren Hilferuf zu unterscheiden. Wie können sich somit Coaches für einen solchen Fall stärken, um in diesen Coaching-Situationen nicht rat- und mittellos dazustehen? Eine Möglichkeit ist die Supervision mit Coaching-Kollegen.
*Psychopathologie: Psychopathologie ist ein Bereich der Psychologie und Psychiatrie, der sich mit der Erforschung und dem Verständnis von psychischen Störungen befasst. Es untersucht die Ursachen, Symptome und Verläufe von Störungen wie Depressionen, Angstzuständen und Schizophrenie, um Diagnosen zu stellen und Behandlungen zu entwickeln.
Supervision bei Grenzfällen
Ein wertvoller und erkenntnisreicher Prozess unter Coaches ist die gemeinsame Supervision. Mithilfe von Supervisionen erhält man von Coaching-Kollegen neutrales Feedback, tauscht Erfahrungen aus und betrachtet schwierige Fälle aus verschiedenen Perspektiven. Dies hilft in einem ersten Schritt, «blinde Flecken» zu erkennen und die Coaching-Situation überlegt einzuschätzen und zu bewerten.
Daran anschliessend lässt sich gemeinsam ein weiteres Vorgehen ermitteln, um in einem nächsten Coaching den Klienten angemessen zu unterstützen. Denn es kann durchaus sein, dass ein Klient tatsächlich Denk- und Verhaltensweisen ausübt, die ihm schaden. Dem nachzugehen ist aus rechtlicher Sicht für einen Coach nicht unerheblich: Denn wer das Feld des sicheren Könnens verlässt, riskiert bei einem eintretenden Schaden den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung.
Zur Veranschaulichung stellt das folgende Fallbeispiel eine Supervision nach und ist in Form eines Erlebnisberichts geschrieben.
FALLBEISPIEL
In unserer letzten Supervisionseinheit skizzierte mir eine Coaching-Kollegin den Verlauf ihrer beiden vergangenen Coachings. Dabei kam in ihr der Verdacht auf, dass ihre derzeitige Klientin suizidal sein könnte. Ich erwiderte hierzu die Frage, anhand welcher Indizien bei ihr dieser Verdacht aufkam. Auf meine Frage verwies sie insbesondere auf das Verhalten ihrer Klientin, sowie punktuelle Äusserungen.
Wir überprüften über eine Checkliste genauer, ob meine Kollegin zu Recht beunruhigt war. Der Verdacht blieb bestehen. Wir resümierten schliesslich unser Supervisionsgespräch und meine Kollegin entschloss sich, mit Ruhe und Übersicht ihre Klientin beim nächsten Coaching auf ihren Suizid-Verdacht anzusprechen.
Bei unserem darauffolgenden Supervisionsgespräch erzählte sie mir, dass ihre Klientin tatsächlich ernst zu nehmende Suizidgedanken habe. Ich selbst fühlte mich erleichtert, dass wir ruhevoll und ohne voreilige Schlussfolgerungen den Fall in unserer Supervision vertieften und unsere Gedanken und Erfahrungen austauschten.
Im nächsten Coaching konnte dann meine Kollegin gemeinsam mit ihrer Klientin Wege bestimmen, um ihre aktuelle Lebenssituation in bessere Bahnen zu lenken.
Sensible Themen: Im Coaching ansprechen, oder nicht?
Für manche Themen braucht es als Coach Mut und Fingerspitzengefühl, um diese anzusprechen. Doch rufen wir uns nochmals in Erinnerung: Bei einem berechtigten Verdacht wäre jede Ignoranz unterlassene Hilfeleistung.
Es empfiehlt sich daher, sensible Themen bewusst anzusprechen. Dies kann über dezente Fragen im Coaching erfolgen. Die Antworten und Körperreaktionen des Klienten liefern dann aufschlussreiche Hinweise, um sich einen differenzierteren Eindruck zu machen. Das nachstehende Fallbeispiel soll dies exemplarisch demonstrieren.
FALLBEISPIEL
Meine Klientin kam in mein Coaching, um sich Klarheit für eine berufliche Weiterentwicklung zu verschaffen. Sie war eine gepflegte Erscheinung, wirkte aber etwas ausgezehrt, nervös und erschöpft.
Im Rahmen unserer Begegnungen fielen mir ihre Verhalten und Bemerkungen auf; sie schien die Aufmerksamkeit stets woanders zu haben und ich bemerkte einen dezenten Weingeruch. Ausserdem stellte ich im Verlauf der Coachings fest, dass sie häufig die Themen wechselte und wiederkehrende Aufmerksamkeitsdefizite zeigte. Der Geruch von Wein verflog auch in späteren Coachings nicht und ich bemerkte rötliche Verfärbung ihrer Handflächen, welches ein Zeichen einer Alkoholsucht sein kann. Bis zu diesem Punkt war ich nur darauf sensibilisiert, dass zwar etwas pathologisches vorliegen könnte, aber nicht muss.
Um sicherzugehen, dass mein Verdacht begründet war, bat ich eine Kollegin darum, eine gemeinsame Supervision durchzuführen. Ich schilderte ihr die Coaching-Sitzungen und sprach alle Indizien an, die ich beobachtet hatte. Gemeinsam wägten wir die Informationen ab und kamen zu dem Schluss, dass das Ansprechen meines Verdachts der richtige nächste Schritt im Coachingprozess sei, um mit meiner Klientin gemeinsam einen angemessenen Weg der Hilfe und Unterstützung zu finden.
Ich sprach somit meine Klientin vorsichtig darauf an, dass mir der Weingeruch aufgefallen war und welche Zusammenhänge es damit in ihrem Leben gäbe. Dabei war ich mir bewusst, dass ich unter Umständen keine adäquate und ehrliche Antwort bekommen würde. Auch wäre es möglich, dass sie das Coaching sofort abbrechen würde. Sie bagatellisierte den Fall und antwortete, dass sie gelegentlich zum Feierabend ein «Weinchen» zu sich nehme; zudem war sie erbost über meine Frage. Ein Zeichen für mich, dass etwas nicht stimmte. Ich fühlte mich zudem unwohl in meiner Rolle – als würde ich fachlich zwischen zwei Stühlen sitzen.
Ich entschied mich, meinen Verdacht im nächsten Coaching nochmals anzusprechen und sie über meinen Verdacht aufzuklären; Moral und Ethik konnte ich nicht unter den Tisch fallen lassen. Zudem kontaktierte ich nochmals meine Kollegin, mit der ich die Supervision durchführte; ich bat sie darum, mir Ansprechpersonen mitzuteilen, an die sich meine Klientin im Fall von Sucht und übermässigem Alkoholkonsum richten kann. Mit diesem Notfall-Plan sprach ich beim darauffolgenden Coaching dezent und sachlich meinen Verdacht auf Alkoholsucht an. Dank meiner professionellen Herangehensweise konnte meine Klientin meinem Rat folgen und sich die notwendige Hilfe holen.
Notfall-Plan parat haben
In unbefriedigenden Coachings zeigt sich der Grenzverlauf zwischen Therapie und Coaching am deutlichsten. Die Gratwanderung zwischen beiden Betreuungsarten wird dann nicht nur zu einer moralisch-ethischen Frage, sondern unter Umständen auch zu einer Thematik mit möglichen rechtlichen und finanziellen Folgen.
Falls es allerdings doch zu solch einem Coaching-Fall kommen sollte, wäre es gut, einen Notfall-Plan in der Schublade zu haben. Zusammenfassend hilft folgende Checkliste dabei, die Grenze zwischen Coaching und Therapie klar vor Augen zu behalten und für den entscheidenden Moment vorbereitet zu sein:
- Seriöse Anamnese mit Fragenkatalog durchführen
- Adressen für Notfallmassnahmen bereithalten (Stichwort: Zwänge, Suizid, Alkoholmissbrauch, Sucht etc.)
- Intervision & Supervision nutzen
- Mit Psychotherapeuten zusammenarbeiten
- Psychologisches Grundwissen aufbauen
- Psychopathologisches Grundwissen aufbauen
Resümee
Es geht bei der vorliegenden Thematik zum einen darum, Coaches bezüglich der Häufigkeit von sensiblen Themen aufmerksam zu machen. Zum anderen geht es darum, darauf aufmerksam zu machen, dass Suizidalität, Depression und Sucht nicht ausschliesslich Themen der Psychiatrie sein müssen.
Als Coach bist du natürlich besonders auf deine eigene Wahrnehmung angewiesen, damit dein Coaching keine «Gratwanderung» wird. Mithilfe von Supervisionen erhältst du Feedback deiner Kollegen und neue Perspektiven zu möglichen Interventionen und Arbeitsansätzen. Dies hilft dir, deine blinden Flecken zu erkennen und alternative Herangehensweisen zu berücksichtigen, um effektivere Unterstützung für deine Klienten zu bieten.
Ausserdem hilft dir die Supervision dabei, ethische Standards und Richtlinien einzuhalten. Ein Supervisor kann dir helfen, potenzielle ethische Herausforderungen frühzeitig zu identifizieren und Lösungen zu entwickeln, um sicherzustellen, dass du in Übereinstimmung mit den professionellen Standards arbeitest.
Auch deine persönliche und berufliche Entwicklung wird durch regelmässige Supervisionen gefördert, indem du unter professioneller Begleitung deine eigenen Denkweisen, Vorurteile und Reaktionen reflektierst. Somit entwickelst du ein tieferes Verständnis für dich selbst und deine Klienten.